Dämmerung über dem Lagazuoi

Die Morgendämmerung am Gipfel des kleinen Lagazuoi (2.778 m) an diesem Herbsttag im Oktober ist atemberaubend. Vor dem leuchtenden Lichtstreifen am Horizont und den pastellfarbenen Schleierwolken erheben sich dunkel und massiv die Berggruppen der Ampezzaner Dolomiten, hinter mir die Tofane und nach Süden Averau und Nuvolau, 5 Torri, Ra Gusela. Dahinter folgen das Panorama mit Hexenstein, Settsass, Antelao, Monte Pelmo, Monte Civetta und vielen wohlklingenden Gipfeln mehr.

In der Zeit zwischen Sommer- und Wintersaison ist die Lagazuoi-Hütte geschlossen. Im Sommer ist sie Stützpunkt auf dem Dolomiten-Höhenweg Nr. 1. zwischen Pragser Wildsee und Belluno. Im Winter startet hier die spektakuläre, 8,5 Kilometer lange Armentarola-Abfahrt. Die Lagazuoi-Bergbahn vom Falzarego-Pass, 600 Höhenmeter unter dem Gipfel, fährt zwar das ganze Jahr, hat ihre erste Fahrt aber erst viel später um 9 Uhr. So verbrachte ich die Nacht im Dachzelt auf der Passhöhe, nicht ohne davor einen leuchtenden Sonnenuntergang genossen zu haben.

Um 3 Uhr klingelte der Wecker. Raus aus dem kuschelig warmen Schlafsack und schnell angezogen. Auf dem einfachen Aufstiegsweg wird mir schnell warm. Das Licht des Halbmonds beleuchtet die Landschaft und den Weg enlang der Skipiste ausreichend hell, so dass ich keine Stirnlampe benötige. Durch ein Kar geht es auf den Travenanzes-Sattel, dann querend und in Serpentinen vorbei an der Bergstation der Seilbahn und zur Berghütte. Ausreichend vor Beginn der Dämmerung erreiche ich dann den Gipfel und kann entsprechende Standorte für Bilder zu erkunden. Am Averau sah ich sich bewegende Lichter, auch dort war jemand für den Sonnenaufgang auf den Gipfel unterwegs. Direkt unter mir floss Kaltluftnebel, welcher durch das gesamte Gadertal (Alta Badia) und Pustertal von Norden hereindrückte, vor dem Settsass über den Valparola-Pass in die Tiefe. Dahinter leuchteten das Sellamassiv und die Marmolada, nach Nordwesten waren die Puez-Geisler-Gruppe und der Alpenhauptkamm zu sehen. Ich meinte sogar das Becherhaus, dass ich vor einigen Jahren besuchte, erkennen zu können.

Traurig sind Ereignisse der jüngeren Geschichte, die ich auf dem Weg passierte. Der Lagazuoi, wie die gesamte Region, ist noch immer gezeichnet von den Auseinandersetzungen im ersten Weltkrieg. Hier verlief ein Frontabschnitt des Gebirgskriegs zwischen Österreich-Ungarn und Italien. Auf dem Gipfel, in den Felswänden und -bändern sind die Stellungen, Verbindungstunnel und -steige, welche von beiden Gegnern in die Felsen gehauen und angelegt wurden, zu besichtigen und teilweise zu begehen.

Im Süden lugt der Passo di Giau zwischen den Felsen von Nuvolau, und Averau hervor. Er liegt mit 2.236 m leicht höher als der Falzarego (2.105 m) und bietet von einem Aussichtsgipfel ein 360-Grad-Panorama der Dolomiten. Das ist mein Ziel für die kommende Nacht. Dort erwartete ich nicht, so wie heute, alleine zu fotografieren.

Als ich dann die Ausrüstung zusammenpackte und zur Hütte und der Seilbahnstation zurückging, kamen gerade die Mitarbeiter der Seilbahn mit der ersten Fahrt nach oben. Sie begannen, das Café und andere Räumlichkeiten für die Gäste vorzubereiten. Also setzte ich mich eine Weile auf die Terasse in die Sonne, um vor dem Abstieg noch das Panorama zusammen mit einen kräftigen Cappucino zu genießen.