Der schlafende Riese oder der Wolf im Schafspelz

Kapitel 5: Ruapehu

Ruapehu im Sonnenaufgang von der Waihohonu Hut, Tongariro Nationalpark, Nordinsel NeuseelandFriedlich und verführerisch gibt er sich, der imposante Ruapehu. Stolz über seine Kraft und Grösse hüllt er sich in das jungfräuliche Weiss des Schnees, lullt unsere Ohren mit sanftem Gurgeln und Plätschern der Bäche ein und verzückt uns durch sein sanftes Leuchten in der Abendsonne. Und die Menschen strömen zu ihm, Klettern in seinen Felswänden, jagen im Winter mit Ski und Snowboard die tiefverschneiten Hänge hinab und Wandern durch Wälder, Geröllhalden und über Gletscher gar bis auf seine Gipfel. Doch er ist ein Wolf im Schafspelz. Nicht nur, daß die Steilhänge ihre Tücken haben und schon einige Bergsteiger abgestürzt sind, oder daß eine Schlechtwetterfront innerhalb von Minuten für lebensbedrohliche Verhältnisse sorgt;  Lahare, Lawinen aus Gestein, Wasser und Eis , haben bisher die meisten Menschen getötet.

Wolkenstimmung im Tongariro Nationalpark, Nordinsel NeuseelandDurch heftige Regenfälle, Eruptionen unter dem Kratersee oder dem plötzlichen Aufschmelzen von Eis und Schnee ausgelöst, rasen vernichtende Fluten zu Tal.  Modernste Überwachungstechniken, u.a. seismografische Messungen und chemische Analysen, sollen heutzutage verhindern, daß Menschen zu Schaden kommen. Durch Frühwarnsysteme und Katastrophenpläne bleibt zum Beispiel den Mitarbeitern des Besucherzentrums im Whakapapa-Dorf fünfzehn Minuten Zeit, den Ort zu evakuieren und in höhergelegenes, sicheres Gelände zu dirigieren. Doch am Weihnachtsabend 1953 gab es hingegen keinerlei Warnungen, welche die größte Unfalltragödie in der Geschichte des Parks verhindert hätte.

Tangiwai, Ort des Eisebahnunfalls von 1954 am Ruapehu, Tongariro Nationalpark, Nordinsel NeuseelandGegen 22 Uhr stoppte der verblüffte Cyril Ellis sein Fahrzeug vor der Whangaehu Flussbrücke. Im schwachen Licht konnte er gerade noch erkennen, daß die Brücke von einer wütenden Flut umspült wurde und die Überfahrt unmöglich machte. Er wunderte sich über die gewaltigen Wassermassen, denn der Tag war schön und ohne Regen. Während er über diese Frage grübelte, bemerkte er die Lichter des Auckland-Wellinton-Expresszuges, der sich in voller Fahrt der Eisenbahnbrücke näherte. Er rannte zum Bahndamm, schwenkte eine Taschenlampe und versuchte schliesslich noch, dem Fahrer durch den Lärm der Maschine und des Flusses eine Warnung zuzuschreien. Doch es war vergeblich. Der Zug fuhr unaufhaltsam weiter auf die Brücke. Auf halber Strecke tauchte die Lokomotive über dem südlichen Flussufer, Nase voraus, hinab und und schien fast das andere Ufer zu erreichen, bevor sie knallend im Wasser aufschlug. Der erste Waggon folgte ihr.

„…Der Lärm war unbeschreiblich, als wäre der Kessel explodiert. Der zweite Waggon bäumte sich vorne auf und wurde durch die Masse der drei hinteren mehr oder weniger in die Luft geschleudert. Dann bemerkte ich, wie die drei nachfolgenden Waggons in drei getrennte Teile auseinanderzubrechen schienen. Sie schlugen auf das Wasser auf, und ich sah sie mit noch brennender Beleuchtung den Fluss hinabtreiben. Nachdem sie ungefähr vierzig Meter zurückgelegt hatten, verschwanden sie, und ich sah ihre Lichter nicht mehr.“

Fünf Wagen folgten der Lok in die Flut, der sechste hing ein steilem Winkel an der Abbruchkante. Ellis eilte dorthin und kletterte selbst in den Wagen, um den Menschen zu helfen, bevor auch dieser abstürzte.

„…Ich ergriff einen Sitz und dann das Gepäckgitter, um ein Stehenbleiben zu ermöglichen. Einige Leute schrien, aber ich rief „Keine Panik, keine Panik Haltet euch an den Gepäckgittern fest.“ Zwischenzeitlich drang Wasser in den Wagen und das Licht erlosch. Weiterhin rüttelte der Wagen und hüpfte in gewalttätigen Sätzen auf und nieder. Zu diesem Zeitpunkt stand ich auf einem Sitz, das Wasser bis zu den Achsel-höhlen. Als nächstes bemerkte ich einen schrecklichen Stoß und er Wagen kippte seitlich nach links. Die Kupplung brach und wir stürzten über die Kante.Ich hatte noch immer meine taschenlampe und brüllte den Leuten zu, nicht in Panik zu verfallen, obwohl wir wie in einem Faß Wasser im Kreise geschleudert wurden. Als das Kabinenlicht ausfiel, hielt ich mich weiterhin am Gepäckgitter fest. Der Wagen überschlug sich einige Male und kam dann auf seiner Seite zur Ruhe, wobei Wasser durch den Wagen floss. Es war unglaublich. Einige Frauen hielten sich an mir fest, aber ich schaffte es, mit meinem Ellenbogen ein Fenster auszuschlagen und und durch Tritte mit dem Schuh die Öffnung zu vergrössern…“

Mit ihm kletterten 26 Personen aus dem Wrack und harrten über eine Stunde in der Nässe und Kälte aus, bevor Retter sie ans sichere Ufer brachten. Doch viele kämpften vergeblich in den schlammigen Fluten. 151 Menschen starben. Eine Untersuchung des Unglücks sieht den Auslöser des Desasters in Kollaps eines natürlichen Dammes aus Eis und Asche, der über längere Zeit hinweg den Abfluss des Kratersees verstopfte und einen verhängnisvollen Wasserstau verursachte. Tangiwai, „weinende Wasser“, bleibt den nachfolgenden Generationen ein Ort der Trauer, Erinnerung und Warnung vor den Gefahren des Berges.

Auch in geringeren Ausmassen haben Lahare viele bedrohliche Situationen herbeigeführt. Dabei waren auch die Skigebiete betroffen. Doch gerade wegen des Risikos  und Nervenkitzels zog es wohl viele Besucher in die Nähe des Berges und in die Skigebiete. Wo sonst kann man auf einem aktiven Vulkan Skilaufen, wie dies 1995/96 mit dem Blick auf hochwachsende Aschwolken möglich war. Solange der Wind die Asche in die andere Richtung blies!

Ruapehu im ersten Sonnenlicht, Tongariro Nationalpark, Nordinsel NeuseelandWie weckt man schlafende Riesen? Oder besser ausgedrückt, wie vermeide ich genau das? Denn vor mir klafft das tiefe Loch, wo sich einst der wunderschöne Kratersee befand. Mit gewaltigem Brausen und Zischen steigt Wasserdampf in den Himmel. Es riecht nach Schwefel. Die umgebenden Gletscher liegen unter einer dicken Ascheschicht und sind dadurch stark abgeschmolzen. Schwarz und Weiss, Frost und Hitze, der Vulkan und ich. Ganz oben auf dem Gipfel, 2797 m über dem Meer. Begeisterung, Freude. „Freude schöner Götterfunken“ kommt mir in den Sinn, wie passend. Der Funke zündete. Über mir kreist ein Flugzeug. Ich winke ihm zu. Ohne Zusammenhang dazu erinnere ich mich an Leute, die sich von Berggipfeln über Mobiltelefone ihren Freunden und Verwandten mitteilen müssen. Ich nicht. Dies ist im Augenblick eine Angelegenheit zwischen dem Berg und mir. Im Gegensatz zu mir hinterlässt er bleibende Spuren. Ich meine nicht die Narben auf meinem Fuss; das ist eine andere Geschichte, die mehr von meiner Übermütigkeit erzählt. Ich habe den Berg mit allen Sinnen wahrgenommen, ihn gerochen, berührt, betrachtet und gefühlt. Dadurch habe ich endlich ein essentielles Geheimnis des Lebens lösen können: … aber das finden Sie besser selbst heraus!

Das heisse Herz Neuseelands –  mehr über den Tongariro Nationalpark:

Kapitel 1: Sonnenaufgang auf dem Ngauruhoe-Gipfel

Kapitel 2: Maoris und ihre Mythen

Kapitel 3: Spektakulärer Tongariro: das Crossing und der Northern Circuit

Kapitel 4: Oturere und Waihohonu – Ödnis und Lebensfülle

Kapitel 5: Ruapehu – Der schlafende Riese oder der Wolf im Schafspelz

Kapitel 6: Schneetanz auf dem Vulkan

Kapitel 7: Nützliche Hinweise und Maori-Ortsbezeichnungen

Alle Bilder in der Tongariro Nationalpark Galerie

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