Ein Ort der Ruhe – Boavista
Nachdem wir Praia verlassen haben, beobachten wir von der ersten Reihe aus den Piloten, wie er nach 40 Minuten Flugzeit die zwanzig-sitzige Twin Otter auf Boavista aufsetzt und vor das einige Gebäude an der Piste rollt. Verglichen mit dem atemberaubenden Anflug auf Fogo, wo die kurze Schotterpiste neben der Steilküste verläuft ist die Landung auf Boavista unspektakulär, wenn auch nicht ohne landschaftlichen Reiz. An den Küsten rund um Boavista ziehen sich wahre Traumstrände entlang. Blendend weiss tauchen sie aus der türkisfarbenen See. Wüsten und zerklüftete Gesteinsformationen im Innern der Insel , auf der verstreut Palmen und Buschwerk wachsen, machen Boa Vista zu einer der schönsten Wüsteninseln und Attraktion für den Urlauber. Den Bewohnern hingegen gestattet das Land nur wenig Landbau und Viehzucht auf dem kargen Landstrich.
Die Ankunft ist herzlich, denn ein selbstgemaltes Schild grüsst international die Neuankömmlinge. Wir gehen hinüber in das steinerne Gebäude, das bereits mit wartenden Flugpassagieren gefüllt ist. An der zweiten Tür des winzigen Raumes drängen sich annähernd alle Aluguerfahrer dieser grössten östlichen Insel, weil die wenigen ankommenden Maschinen eine gewinnbringende Fahrt bedeuten. Unter dem Wellblechdach staut sich die gelbe Hitze des Tages und wir packen schleunigst unsere Sachen, um durch das Menschenspalier an bessere Luft zu gelangen. Wir ergattern einen Platz auf der Pritsche eines Pikups zwischen Taschen und Koffern. Die holprige Fahrt geht über staubige Kopfsteinpflasterstrassen, vorbei an langgezogenen Wanderdünen und kleinen Gruppen von Palmen nach Salrei, dem Hauptort der Insel. Hier finden wir eine nette Pension und die wichtigsten Einrichtungen wie Polizei und Sanitätsstation, Post, Bank und kleine Läden mit äusserst bescheidenem Lebensmittelangebot.
In Hülle und Fülle vorhanden sind hingegen Sicheldünen, die vom Wind getrieben nach Westen wandern. Der Passatwind bringt zudem weiteren Nachschub an Sand aus der Sahara, wo wer von Stürmen in die Atmosphäre aufgewirbelt wird. Dann beginnt die Reise nach Westen auf die Kapverden nd sogar bis in die südamerikanischen Regenwälder, denen er lebenswichtige Mineralien zuführt. Auf Boavista bedrohen die Sandmassen auf ihrer Wanderung Strassen , Siedlungen und Pflanzen. Im letzten Jahrhundert war Salrei sogar meterhoch mit Sand bedeckt und wurde mühsam freigeschaufelt. Mit Zäunen aus Palmwedeln entlang der Hauptstrasse wird versucht, dem Sand Einhalt zu gebieten, doch verzögert sich deren Vorrücken kaum sichtbar; so mächtig sind hier wieder einmal die Naturgewalten.
Dem Sand verdankt die Insel aber auch die schönen Strände. So auch den kilometerlangen Praja de Chave, den wir direkt von Sal Rei aus zu Fuss entlangspazieren, ohne einem Menschen zu begegnen. Der weisse Sand verläuft hier sanft in die von einer vorgelagerten Insel gegen die Brandung geschützten Bucht und bildet so einen ausgezeichneten Badeplatz. Im Inselinnern erheben sich karge Basalthügel über die flimmernden Luftschichten der Dünenlandschaften und Geröllwüsten. Die Sonne sticht aggressiver vom Zenit, und keinerlei Schatten gewähren Schutz, so dass man sich mit Hut, langer Kleidung und Sonnencreme wehren muss. Nie wölbt sich ein azublauer Himmel über der Insel, denn Staubschleier überdecken zum einen das Land, zum anderen erstrahlt die Luft in gleissender Transparenz. Später ziehen sogar Wolken auf, die aber keine Hoffnung auf Regen bringen, zu dünn ist ihr grauer Schleier.
Von weitem erkennen wir den hochaufragenden Schornstein einer alten Keramikfabrik, die seit Jahrzehnten stillgelegt ist. Der Marsch dorthin zieht sich allerdings in die Länge. Aus der Nähe sehen wir die wenigen Mauerreste fast vollständig im Sand begraben und nur vom hohen Schlot überragt. Die Keramikbrennerei wurde von der jüdischen Handelsfamilie O’Liel betrieben, denen auch die Saline bei Salrei gehörte. Anfang unseres Jahrhunderts kam aber das wirtschaftliche Aus. Die Tradition der Töpferei und des Brennens wird aber beim nahegelegenen Ort Rabil fortgesetzt. Der auf Boa Vista gewonnen Ton geniesst übrigens nicht nur bei einheimischen Künstlern einen guten Ruf.
Unsere eigenen Fussspuren sind die einzige Hinterlassenschaft am Strand, bis auch sie von der Flut fortgespült werden. Doch als wir uns wieder dem Ort nähern ändert sich das Bild: überall verunstalt der achtlos weggeworfene Müll die Umgebung. Neben dem Landungssteg liegen die farbenfrohen Boote, die nur auf Boa Vista mit einem lateinischen Dreiecksegel ausgestattet sind, das jedoch zugunsten des Aussenbordmotors nach und nach aufgegeben wird. Auf einer Bank am überdimensionierten zentralen Platz, um den sich ehemalige Kolonialgebäude mit Läden, die wehrhaft anmutende Kirche und grell bunte Wohnhäuser gruppieren, beobachten wir die vielen Familien beim Abendspaziergang.
Die Kinder toben auf dem Spielplatz bis weit nach 22.00 Uhr. Für die Kinder gibt es auf den Kapverdischen Inseln im Fernsehen auch ein Sandmännchen, das jeweils um 21.00 Uhr seine Gutenacht-Geschichte erzählt und nebenbei zur Zahnpflege erzieht. Doch die Menschen auf allen Inseln nehmen die angenehmen Temperaturen zum Anlass, auf den Strassen zu flanieren und zu diskutieren. Und auch auf den Kapverden wollen die Kleinen lieber umhertollen als früh ins Bett !
Eine zweite Wanderung führt uns entlang der Strasse ins Inselinnerei. Nach über einer Stunde Marsch in der Gluthitze entschliessen wir uns zum Autostop, obwohl uns seit unserem Abmarsch nur ein Einheimischer auf seinem Esel begegnet ist. Doch wir lassen uns deshalb nicht entmutigen und werden vom Glück verwöhnt. Nach fünf Minuten kommt tatsächlich ein Auto, das auch sofort anhält ! Darüberhinaus stellt sich der Fahrer auch noch als der Inseldoktor vor, der seine tägliche Rundtour über die Dörfer unternimmt. Er ist , wie sich herausstellt, ein exzellentes Beispiel für die junge, intelligente Generation des Landes: „Parlez vous, francais ?“ fragt er uns “ or do you speak englisch ?“ „oder wollt Ihr Euch mit mir auf chinesisch unterhalten ?“.
Ich bin verwundert über seine sprachlichen Fähigkeiten und er erzählt seine Geschichte dazu: „Ich hatte das Glück, ein Medizinstipendium der Chinesischen Regierung zu erhalten. Ihr wisst vielleicht, dass wir zu sozialistischen Bruderländern enge Beziehungen pflegten und Unterstützung genossen. Unser Parlament wurde von den Chinesen errichtet, beste realsozialistische Architektur ! Neben meinem Studium lernte ich auf kurzen Reisen auch die anderen Sprachen.“ Unsere Unterhaltung ist besonders lustig, denn wenn uns die entsprechenden Vokabeln nicht einfallen wechseln wir fliessend in eine andere Sprache. Auf der Fahrt noch Povocao Velha, dem ältesten Dorf der Insel, erzählt er uns viel übe die Menschen und ihre Probleme, wobei er auch auf die medizinische Betreuung zu sprechen kommt: „Sie erfolgt mit einfachen Mitteln, ist aber durch den mitmenschlichen Kontakt und viel Verständnis eher ein Vorbild für die technische Medizin der wohlhabenden Länder“.
Durch ein enges Tal erreichen wir das an den Hängen des Roche Estancia gelegene Dorf. Freudig wird der Geländewagen begrüsst und von den Dorfbewohnern umringt, die uns interessiert taxieren. Während unser Arzt ein Schwätzchen über das Befinden hält und anschliessend Hausbesuche erledigt, nutzen wir die Zeit, um die hübsche Kirche zu besichtigen. Von dort überschauen wir den in einer Talsenke gelegenen Friedhof und das Dorf, aus dem der Wind das Geschrei von Kindern, Hühnern, Ziegen und Eseln heraufträgt. Die Geröllwüste übt mit ihrem Schutt und Gestein immer ein äussert unordentlichen, dreckigen Eindruck auf mich aus. Doch hier strahlt die Umgebung eine friedvolle Ruhe aus.Um Sicherheit und Geborgenheit zu finden, siedelten die Bewohner an diesem Ort fern von der Küste, an der sie ständig von Piraten bedroht waren. Nicht nachvollziehen kann ich jedoch, weshalb der Kapitän Alois Cadamosto dieses Eiland „Schöne Aussicht“ nannte, nachdem ihn ein Sturm vom afrikanischen Festland zu der Insel getrieben hatte und er durch diese Fügung die Kapverden entdeckte.
Das Hupen des Doktors reisst mich aus meinen Träumen. Wir setzen unsere Rundfahrt fort. Uns werden eindrucksvolle Einblicke in das Dorf- und Familienleben gewährt. Auf meine Bitte besuchen wir eine Dorfschule, wo ich endlich mein Paket mit Stiften, Zeichengerät und Taschenrechnern einer sinnvollen Weiterverwendung zuführen kann. Die Lehrerin bedankt sich überschwenglich, da es den Schulen überall an Lehrmaterial fehlt. Durch unseren Begleiter fühle ich mich in die Gemeinschaft integriert, und wir dürfen am Leben der Menschen teilhaben, soweit unsere Sprachkenntnisse dies eben zulassen. Doch ein Blick oder ein Lächeln sprechen eine deutlichere Sprache. Wir sind dankbar für die freundschaftlichen Gesten, die in solchen Augenblicken jede Anstrengung und Unbill vergessen machen. Als Abschluss der Tour fahren wir gemeinsam zum Baden an einen der schönen Strände, im die bleierne Hitze zu vergessen und sich noch einmal kräftigen Appetit für ein ausgiebiges Abendessen in Sal Rei zu holen.
Nach ruhelosen Reisetagen habe ich mit Boavista einen Ort gefunden, an dem ich verweilen will und kann. Die Eindrücke müssen sich setzen, und ich nehme mir die Zeit, Gedanken und Erlebnisse niederzuschreiben. Nach einer Weile werde ich sie wieder spüren, jene Rastlosigkeit, die mich schon durch viele Gegenden getrieben hat. Dann bin ich gefangen in dem Verlagen, unterwegs zu sein. Ich kann nur schwer konkrete Gründe benennen, denn diese Unruhe wird von Gefühlen und nicht vom Verstand gesteuert. Ist es der Wunsch, aus dem Alltag auszubrechen, zu fliehen ?Ist es das Ziel, fremde Menschen und Länder zu studieren ? Ist es nicht vor allem eine Reise zu mir selbst, auf der jeder zurückgelegte Kilometer in der Realität die Distanz vergrössert, mich aber näher an mein innerstes Selbstverständnis bringt ? Viele Schriftsteller haben sich in der Reiseliteratur intensiv mit dem Phänomen Reisen auseinandergesetzt. Bruce Chatwin ein englischer Reiseschriftsteller, untersuchte besonders diese „Wanderlust“ an unterschiedlichsten Völkern, die als Nomaden umherziehen. Von dem Zug der Beduinen bis zu den „Walkabouts“ der australischen Ureinwohner erstreckten sich seine Studien, nach denen er Theorien über den Wandertrieb anstellte.
Es gibt Augenblicke, da wünsche ich mir, ich möge nie am Ziel ankommen und z.B. das Schiff oder der Bus führe ewig weiter. Dann folgt plötzlich der Drang, endlich wieder die vertraute Umgebung zu sehen. So versuche ich zwischen Polen die Flexibilität auf meinen Reisen zu bewahren, um möglichst nach meiner inneren Uhr das Tempo zu bestimmen. So verbringen wir entspannende Tage auf Boavista, ehe der Rückflugtermin zur Weiterreise zwingt. So schliesst sich der Kreis unserer Inselrundreise, als wir nach einem kurzen Hüpfer mit dem Flugzeug auf Sal landen.
Widerwillig wenden sich unsere Gedanken an die bevorstehende Abreise, während die verbleibende Zeit immer schneller verstreicht. In wenigen Stunden sitzen wir im rauschenden Dunkel hoch über der afrikanischen Nordwestküste, doch unsere Herzen werden noch auf den Inseln sein. „Komm mit“, sagt Anja auf einmal und packt meine Hand. Sie zieht mich in die kleine Bar, aus der wir am Anfang der Reise die schöne Musik vernommen hatten. Wir bestellen uns natürlich das einheimische Ceris-Bier und zwei Grogue und die Musik beginnt aufs Neue diesen klagenden Klang zu spielen. Aus einer Stimme wird ein Chor, aus einer Gitarre eine kleine Band, und alles beginnt von vorn: das pulsierende Mindelo, die spitzen Gipfel von Santo Antao, der Vulkan …
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